Bevor Sie sich in das nächste Verbesserungsprojekt stürzen, fragen Sie sich: Gehe ich überhaupt die richtigen Probleme an? Sind es tatsächlich Probleme, die eine Auswirkung auf die Kundenzufriedenheit haben? Oder gehen Sie von falschen Annahmen aus, was den Kunden wirklich stört und was er sich wünscht? Ein klassischer Schnellschuss? Wenn wir in einem Verbesserungs-Workshop danach fragen, was die Kunden wollen, sprudeln die Antworten aus den Teilnehmern heraus. Fragen wir anschließend danach, wer darüber tatsächlich mit einem Kunden gesprochen hat, heben sich üblicherweise keine Hände. Das verdeutlicht, dass viele dazu neigen, allein Vorstellungen der Kundenbedürfnisse als Ankerpunkt für Verbesserungen zu setzen. Oft ist die Intuition richtig, öfters gehen die Anstrengungen aber am eigentlichen Problem vorbei. Und der Kunde bleibt unzufrieden.

Mit dem Ansatz Voice of the Customer (VOC) setzt Six Sigma die Auseinandersetzung damit, was der Kunde überhaupt will, an den Anfang jeder Verbesserung. Das schützt vor einem enormen Aufwand, der am Ende nicht zielführend ist und außer viel Arbeit niemandem etwas bringt. Kein Kunde besteht im Supermarkt darauf, dass alle Gurken gleich lang, gleich gekrümmt und gleich schwer sind. Jahrelange Forschungsarbeit, ausgeklügelte Produktion und getaktete Prozesse könnten das sicherlich hinbekommen – nur der Aufwand würde nicht entlohnt. Aus Kundensicht entsteht kein nützliches Differenzierungsmerkmal daraus und folglich wird auch niemand bereit sein, für den Mehraufwand zu zahlen.

Die Kundenstimme ist Ihr Kompass im Six-Sigma-Projekt

Um in die richtige Richtung zu gehen, steht am Anfang eines Six-Sigma-Projekts, in der „Define“-Phase, stets die Stimme des Kunden im Fokus. Mit dem Konzept Voice of the Customer wird analysiert, was das tatsächliche Kundenbedürfnis ist. Damit lässt sich bereits beim Aufsetzen eines Projektes erwägen, wieso es überhaupt von Bedeutung ist, dieses Problem zu lösen. Klingt logisch, kommt aber oft zu kurz. Häufiger ist schnell entschieden, dass ein identifiziertes Problem am besten mit einem Six-Sigma-Projekt anzugehen ist, und der Rest wird schon ein Selbstläufer sein – Irrtum! Zwar lässt sich so eine Problemstellung beschreiben, doch die richtige oder beste Lösung dafür bleibt im Unklaren.

Daher ist es sehr bedeutsam, im VOC-Abschnitt eines Projektes gleich am Anfang der Kundenperspektive auf den Grund zu gehen. Was erwartet der Kunde? Ist es „Qualität“? Dann müssen wir verstehen, was das genau bedeutet – Bearbeitungszeit, Durchlaufzeit, Verlässlichkeit oder andere Aspekte? Wenn wir das Problem unter die Lupe nehmen, vermeiden wir die typischen Schnellschüsse, die auf einfachen Annahmen basieren oder durch schlichte Vorurteile geprägt sind. Auch die Dynamik im „Groupthink“ kann zu realitätsfremden Einschätzungen führen: Durch eine antizipierte Meinung der Gruppe werden die eigentlichen Ursachen außer Acht gelassen. „Die Dauer bis zur Auslieferung war immer das, worüber sich die Kunden geärgert haben“ – solche Aussagen führen ein Projekt von Anfang an in eine bestimmte Richtung. Ist es aber die richtige? Vielleicht rückt bei näherer Betrachtung ein anderer Aspekt in den Mittelpunkt. Vielleicht lässt sich feststellen, dass die Bearbeitungszeit nicht das eigentliche Thema ist, sondern die Liefertreue. Aus Sicht des Kunden existiert vielleicht keine Planungssicherheit. Und plötzlich hat das Projekt eine andere Richtung, einen anderen Fokus.

Mit VOC arbeiten wir an den richtigen Themen. Richtig ist das, was für den Kunden Bedeutung hat. Hier ist die Perspektive des Kunden unbedingt einzunehmen beziehungsweise einzufordern. Interessiert der Kunde sich für die durchschnittliche Liefertreue (nach dem Motto: Fünf von sieben Lieferungen sind doch pünktlich)? Nein! Denn Kunden registrieren nicht den Durchschnitt, sondern die Variationen in Prozessen. Je höher die Variation, desto negativer die Kundenerfahrung. Entscheidend ist, wie wir diese Variationen „einfangen“. Wichtig ist also, die Abweichungen von den erwarteten Lieferterminen auf einem geringen Niveau zu halten. Als Fazit lässt sich hier festhalten: Ein Six-Sigma-Projekt muss exakt ausgerichtet werden und damit vom Projektbeginn an in die richtige Richtung laufen. VOC liefert die entscheidenden Grundlagen hierfür.

 

Zuhören mit den richtigen Methoden

 

Doch wie lassen sich die Kundenstimmen einfangen? Wie ermitteln wir die Grundlagen für den VOC-Ansatz? Die Antwort kann nicht allgemeingültig ausfallen, denn dies hängt von der unternehmensspezifischen Situation ab. Wenn klare Kundenstimmen bekannt und sinnvoll formuliert sind, ist es einfach, darauf zurückzugreifen. Zum Beispiel, wenn das Motto eines Unternehmens lautet: „Wir liefern immer pünktlich oder Sie bekommen Ihr Geld zurück“, dann muss dieses Versprechen der Pünktlichkeit eingehalten werden. Sinnvollerweise spiegelt sich dies in den Verbesserungsprojekten als klares Ziel wider.

Am anderen Ende der Skala kann die Ermittlung der VOC wesentlich aufwendiger ausfallen. Ist die Kundenstimme unklar, lassen sich mehrere Tools einsetzen. Beispielhaft genannt seien hier Interviews, Fokusgruppen, Beobachtungen, Social Media Monitoring (qualitative Methoden) oder Befragungen, A/B-Tests, Web-Analysen sowie Eye-Tracking (quantitative Methoden). Sie alle können allein oder im Zusammenspiel angewandt werden. Alternativ bleiben interne Diskussionen mit betroffenen Abteilungen, um Meinungen zu den Kundenwünschen zu gewinnen. Für welchen Weg sich das Unternehmen entscheidet, hängt vom assoziierten Aufwand und Nutzen der unterschiedlichen Tools bezogen auf die jeweilige Situation ab.

 

Befragen Sie alle Quellen

 

Ein Fehler ist bei der Auswahl jedoch zu vermeiden: die vorschnelle Verengung auf einen bestimmten Touchpoint. So könnte eine stark kundenorientierte Firma meinen, den Aufwand zu verkürzen, indem ausschließlich der Vertrieb die Informationen liefern soll. Häufig hat der Vertrieb den meisten Kontakt mit den Kunden und daher ist er eine gute Quelle, die sich „anzapfen“ lässt. Allerdings müssen auch alle anderen Berührungsprozesse in Betracht gezogen werden. Denn es gibt selbstverständlich immer wieder viele optimierungsbedürftige Prozesse, die keinen direkten Kundenbezug haben. Auch diese müssen im Rahmen von VOC beleuchtet werden, um zu ermitteln, was eine – aus Kundensicht – gerechtfertigte Zielsetzung ist. Ist der Lack zu dünn oder nur nicht resistent genug? Dem Kunden ist das egal, er bemängelt, dass er sich schnell abnutzt. Hier gilt es, aus den Kundenaussagen in Kombination mit dem Wissen im Unternehmen die kritischen Hebel herauszudestillieren. Im Rahmen von Six-Sigma-Projekten ist das die Identifikation der Elemente, die kritisch für das Qualitätsempfinden des Kunden sind. Deshalb nennen wir das in Six Sigma „Critical to Quality“ (CTQ).

Bleiben Sie am Ball

VOC ist eine entscheidende Phase im Six-Sigma-DMAIC-Zyklus. Sorgfältig angewendet, sorgt das Konzept dafür, Projekte sehr frühzeitig zielführend aufzusetzen. Wie viel Aufwand investiert wird, um Gewissheit zu erlangen, hängt von der jeweiligen Situation ab. Hier ist neben Durchsetzungsvermögen auch die Erfahrung des Projektverantwortlichen entscheidend. Stets muss ihm und allen Beteiligten bewusst sein, dass VOC keine einmalige Aufgabe ist, sondern eher eine grundlegende Haltung die jedem Projekt zugrunde liegen muss: sich intensiv mit der Ausrichtung des Projektes aus Kundensicht zu beschäftigen. Das sich stets wandelnde Unternehmensumfeld führt dazu, dass eine Projektausrichtung von Jahr zu Jahr anders gestaltet werden muss. Neue Technologien, Wettbewerb, die allgemeine wirtschaftliche Situation und vieles mehr führen zu Änderungen im VOC. Das Kano-Modell führt dies sehr deutlich vor Augen: Was heute als großartiges Differenzierungsmerkmal gilt, ist morgen lediglich Teil des Standards. Das nimmt jeden Six-Sigma-Projektleiter in die Pflicht: Es bleibt nichts anderes übrig, als permanent am Ball zu bleiben.