Dass die tradierten globalen Lieferketten instabil geworden sind, hat sich deutlich während der Corona-Pandemie gezeigt. Intensiviert wird das Thema nun durch den Krieg in der Ukraine mit all den Verwerfungen, die dieser mit sich bringt. Doch den teilweise volatilen Elementen der Supply Chains liegen noch weitere, multidimensionale Ursachen zugrunde. Nur mit der Betrachtung dieser Hintergründe lässt sich erklären, weshalb Unternehmen immer intensiver mit der Unzuverlässigkeit ihrer gewohnten Beschaffungskanäle konfrontiert sind.

In einer Wirtschaftskette, die auf Just-in-time-Belieferung getrimmt ist, gilt die Stabilität der Versorgung als A und O.

Wie in einem Brennglas wurde dies bei der Havarie der Ever Given im Suezkanal deutlich. Ein Schiff blockiert den Großteil der globalen Lieferkette und bringt die Stabilität ins Wanken, auf die beinahe alle europäischen Industrien setzen. Durch die Blockade des Kanals wurden in Europa – und auch in anderen Teilen der Welt – nicht nur für Tage, sondern für Monate die Grundlagen der hiesigen Wirtschaft massiv eingeschränkt.

Neben solchen singulären Ereignissen sind Lieferketten auch durch einen grundsätzlichen Umschwung in der wirtschaftlichen Weltordnung betroffen. Über Jahrzehnte waren die Lieferketten auf den Konsum der traditionellen Industrienationen ausgerichtet. Doch das massive Wachstum der Schwellenländer – allen voran China – führte zu einer Verschiebung des weltweiten Konsums. Noch vor 20 Jahren waren die G7-Industrienationen die wichtigsten Handelspartner für den größten Teil der Erde. Mittlerweile nimmt immer mehr China diese Rolle ein. Dies führt zu einem Shift der weltweiten Warenströme und somit immer häufiger zu einem Versiegen der eingefahrenen weltweiten Materialflüsse. Auch mit dieser Auswirkung der sich ändernden Wirtschaftsvormacht und den damit verbundenen Prioritäten in den Logistikketten sind Unternehmen in Europa konfrontiert. Für den hiesigen Industriestandort bedeutet das, sich neue Wege gegen die Instabilität ihrer Lieferketten zu suchen.

Wie gelingt es, eine Art Resilienz aufzubauen und die eigene Wertschöpfung sicherzustellen?

Eine Antwort liegt darin, wirtschaftliche, stabile und flexible Lieferketten zu gestalten. Neuer zentraler Bestandteil ist hierbei ein Umdenken:

Das eigene Unternehmen startet nicht erst am Wareneingang, sondern schon in der Betrachtung der gesamten Supply Chain!

Ein erster Schritt in diese Richtung besteht darin, eine saubere Risikobewertung vorzunehmen und daraus Maßnahmen bezüglich der eigenen (globalen) Lieferketten abzuleiten. In diesem Rahmen sind Themen wie Insourcing oder andere strategische Ansätze für die Lieferketten zu betrachten. Ein weiterer Gesichtspunkt, neben den klassischen Dimensionen Kosten und Stabilität der Lieferkette, muss auch die Flexibilisierung als Reaktion auf sich ständig verändernde Rahmenbedingungen sein. Das bedeutet für Unternehmen zwingend, multidimensional im Rahmen der Lieferketten zu denken und sich entsprechend aufzustellen.

Um die eigenen Lieferketten zu hinterfragen, gilt es, neben den Lieferanten auch die Logistikkette in den Fokus zu rücken. Der Lieferant als produktbereitstellender Partner und die Logistikkette als Prozess zwischen dem Lieferanten und dem eigenen Unternehmen lassen sich mit Hilfe einer Risikoanalyse betrachten:

  • Risikoidentifikation in der Bereitstellung der benötigten Eingangsprodukte
  • Ursachenanalyse der identifizierten Risiken
  • Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit
  • Bewertung der Schadenswirkung

Um sich als Unternehmen bei der Risikoanalyse auf die richtigen Eingangsprodukte zu fokussieren, ist im Voraus die Bewertung der Bedarfe mit einer XYZ-Analyse sinnvoll. Hierbei geht es darum, die häufig benötigten von den selten benötigten Teilen zu unterscheiden.

Nachdem eine erste Risikobewertung vorliegt, sind im Rahmen der zukünftigen Prozessgestaltung die kritischen Lieferketten zu betrachten. Hierbei kann in unterschiedliche Lösungsrichtungen gedacht werden. Natürlich spielt das Thema Insourcing, das heißt die Vereinnahmung von Teilen der vorgelagerten Wertschöpfungskette, eine Rolle. Sinnvoll ist hier die Nutzung der Make-or-Buy-Methode.

Der technologische Fortschritt der letzten 20 Jahre kann an vielen Stellen dazu führen, dass ehemals in Europa nicht mehr wirtschaftliche Wertschöpfung heute durchaus wieder wirtschaftlich betrachtet werden kann.

Sollte ein reines Insourcing ins eigene Unternehmen nicht wirtschaftlich sein, kann die Betrachtung nicht nur des eigenen Unternehmens, sondern auch möglicher Mitbewerber im lokalen Kontext hilfreich sein. Eventuell lässt sich eine Kooperation denken, bei der die Stückzahlen so in die Höhe getrieben werden, dass ein Insourcing als Joint Venture rentabel wird.

Da Europa grundsätzlich ein rohstoffarmer Kontinent ist, sind die hiesigen Industrien jedoch weiterhin abhängig von Importen vom Weltmarkt. Hier ist bei der Gestaltung der notwendigen Lieferketten die Hauptaufgabe für Unternehmen, weniger Single Sourcing und mehr Multi Sourcing zu etablieren. Das bedeutet, die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten oder Märkten möglichst gering zu halten und mehr auf verschiedene eingehende Materialflüsse zu setzen.

Die Analyse und Gestaltung der eigenen Lieferketten müssen mehr denn je iterativ geschehen und als Teil des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses im Unternehmen etabliert sein. So gelingt es Unternehmen, eine Transparenz über ihr Risikopotential zu erhalten. Diese Transparenz ermöglicht es, auf aktuelle Änderungen von Rahmenbedingungen schneller zu reagieren, was wiederum zu einer höheren Flexibilität und Resilienz der eigenen Lieferketten führt. Unternehmen können so die Stabilität der eigenen Prozesse erhöhen und die Planbarkeit ihrer internen Wertschöpfungsprozesse sicherstellen. Unternehmen können die aktuelle Situation primär auch als Chance sehen, eingefahrene Wege zu verlassen.