Überblick

 

Die narrative Organisationsentwicklung ist ein Ansatz, der Geschichten und Narrative als zentrale Elemente betrachtet, um Veränderungen in Organisationen zu initiieren und zu begleiten. Im Gegensatz zu traditionellen Methoden, die oft auf Zahlen, Fakten und Strukturen fokussieren, rückt die narrative Organisationsentwicklung Erzählungen und die subjektiven Wahrnehmungen der Organisationsmitglieder in den Mittelpunkt. Sie geht davon aus, dass Menschen in Organisationen ihre Erfahrungen, Überzeugungen und Handlungen durch Geschichten und Erzählungen kommunizieren und diese Geschichten das Verhalten, die Kultur und die Dynamik einer Organisation entscheidend prägen.

In einer Organisation existieren unzählige individuelle und kollektive Geschichten, die darüber Auskunft geben, wie die Organisation wahrgenommen wird, welche Werte und Normen herrschen und wie Entscheidungen getroffen werden. Die narrative Organisationsentwicklung nutzt diese Geschichten als Werkzeuge, um Veränderungsprozesse zu gestalten. Sie hilft dabei, bestehende Erzählungen zu erkennen, neue Erzählungen zu entwickeln und diese als Mittel für die Transformation der Organisation zu nutzen. Dieser Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass Veränderung nur dann vollumfänglich ist, wenn sie nicht nur auf struktureller Ebene erfolgt, sondern auch auf der Ebene der Bedeutungen und Erzählungen, die von den Mitgliedern der Organisation geteilt werden.

 

Konzept

 

Das Konzept der narrativen Organisationsentwicklung stützt sich auf die Annahme, dass Geschichten und Narrative in Organisationen eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von Realität spielen. Geschichten sind nicht nur Ausdruck von Erfahrungen, sondern beeinflussen auch, wie Menschen ihre Umwelt verstehen, Entscheidungen treffen und in Interaktion mit anderen treten. Narrative schaffen somit eine gemeinsame Basis, auf der sich organisatorisches Handeln aufbaut. In der narrativen Organisationsentwicklung wird gezielt darauf geachtet, welche Geschichten in einer Organisation erzählt werden, welche Macht diese Geschichten haben und wie sie die Kultur und das Verhalten der Mitglieder formen.

Ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts ist das Verständnis der vorherrschenden Narrative innerhalb einer Organisation. Diese Geschichten spiegeln die kollektiven Überzeugungen und die gelebten Werte wider und beeinflussen die Art und Weise, wie Menschen ihre Arbeit sehen, wie sie miteinander umgehen und wie sie auf Herausforderungen reagieren. Die narrativen Muster, die sich in einer Organisation entwickeln, sind oft tief verwurzelt und bestimmen die Identität der Organisation. Sie geben den Mitarbeitern Orientierung und formen die organisationalen Normen. In vielen Fällen entstehen diese Narrative über Jahre hinweg und sind stark mit der Geschichte und den Gründungsmythen der Organisation verbunden.

Die narrative Organisationsentwicklung setzt an diesem Punkt an, indem sie bestehende Geschichten nicht nur analysiert, sondern sie auch gezielt nutzt, um den Wandel in der Organisation zu fördern. Durch die Arbeit mit Narrativen werden die impliziten Annahmen und Überzeugungen aufgedeckt, die das Handeln der Organisationsmitglieder leiten. Ein Beispiel hierfür könnte ein Unternehmen sein, das sich in einer Phase des Wandels befindet und eine Erzählung pflegt, dass „Veränderung immer mit Risiken verbunden ist und besser vermieden werden sollte“. Diese Geschichte beeinflusst die Bereitschaft der Mitarbeiter, Veränderungen offen zu begegnen und neue Ansätze zu akzeptieren. Eine narrative Organisationsentwicklung würde hier ansetzen, um diese bestehende Erzählung zu hinterfragen und alternative Geschichten zu entwickeln, die eine offenere und positivere Haltung gegenüber Veränderungen fördern.

 

Narrative Erkundung

Im Prozess der narrativen Organisationsentwicklung ist die Erkundung der bestehenden Geschichten der erste Schritt. Dabei werden verschiedene Techniken verwendet, um die Erzählungen zu sammeln, die in der Organisation vorherrschen. Dies kann durch Interviews, Workshops oder durch das gezielte Zuhören in informellen Gesprächen geschehen. Es ist wichtig, sowohl die offiziellen als auch die inoffiziellen Geschichten zu erfassen, da letztere oft mehr über die tatsächliche Kultur und Dynamik der Organisation aussagen. In vielen Organisationen gibt es offizielle Erzählungen, die in Leitbildern oder in der Unternehmenskommunikation festgehalten sind, während die inoffiziellen Geschichten in den Fluren, in Kaffeeküchen oder bei informellen Treffen erzählt werden.

Die gesammelten Geschichten bieten wertvolle Einblicke in die kollektiven Überzeugungen und die emotionalen Dynamiken der Organisation. Sie zeigen, wie Veränderungen wahrgenommen werden, welche Ängste und Hoffnungen mit bestimmten Entwicklungen verbunden sind und welche Werte tatsächlich gelebt werden. Diese Geschichten dienen als Diagnoseinstrument, um die Stimmen innerhalb der Organisation zu hören und zu verstehen, wie die Mitarbeitenden die gegenwärtige Situation und die möglichen zukünftigen Entwicklungen sehen.

 

Veränderung durch neue Narrative

Ein zentrales Ziel der narrativen Organisationsentwicklung ist es, neue Geschichten zu entwickeln, die den Wandel unterstützen und die gewünschten Veränderungen in der Organisation fördern. Diese neuen Narrative werden nicht von außen vorgegeben, sondern entstehen durch einen dialogischen Prozess, bei dem die Mitglieder der Organisation aktiv beteiligt sind. Der Ansatz der narrativen Organisationsentwicklung setzt auf Partizipation und die aktive Einbindung der Mitarbeitenden, da nur Geschichten, die von den Beteiligten als authentisch und bedeutsam empfunden werden, langfristig Wirkung zeigen können.

Ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist es, die bestehenden negativen oder limitierenden Geschichten zu hinterfragen und durch alternative Erzählungen zu ersetzen, die ein positiveres und konstruktiveres Bild zeichnen. Zum Beispiel könnte ein Team, das die Geschichte erzählt, dass „Fehler unbedingt vermieden werden müssen“, dazu angeregt werden, eine neue Erzählung zu entwickeln, in der Fehler als notwendiger Teil des Lernens und der Innovation verstanden werden. Diese neue Geschichte könnte dann die Grundlage für eine Kultur des Experimentierens und der Offenheit für Risiken bilden.

 

Verankerung der neuen Erzählungen

Damit neue Geschichten nachhaltig in der Organisation verankert werden, müssen sie in den täglichen Interaktionen, Entscheidungsprozessen und Ritualen der Organisation sichtbar werden. Die narrative Organisationsentwicklung begleitet diesen Prozess, indem sie darauf achtet, wie die neuen Erzählungen in die gelebte Praxis integriert werden können. Dies kann durch regelmäßige Reflexionsrunden, Storytelling-Workshops oder durch die gezielte Förderung von Führungskräften geschehen, die als „Geschichtenerzähler“ fungieren und die neuen Erzählungen im Alltag verkörpern.

Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg ist die Kontinuität. Veränderungen in der Organisationskultur geschehen nicht über Nacht, und es erfordert Zeit, bis neue Geschichten die alten Narrative vollständig abgelöst haben. Die narrative Organisationsentwicklung unterstützt diesen Wandel, indem sie dafür sorgt, dass die neuen Erzählungen nicht nur symbolisch, sondern auch praktisch gelebt werden. Dies bedeutet, dass die Werte und Überzeugungen, die in den neuen Geschichten zum Ausdruck kommen, in den Entscheidungsprozessen, in der Kommunikation und im Führungsverhalten sichtbar werden.

 

Mehrwert

 

Einer der zentralen Mehrwerte der narrativen Organisationsentwicklung liegt in der Förderung eines tieferen Verständnisses der Organisationskultur. Indem die Geschichten der Mitarbeiter und Führungskräfte erfasst und analysiert werden, erhält die Organisation Einblicke in ihre eigene Identität, ihre Normen und Werte. Dies ermöglicht eine differenzierte Diagnose und schafft die Grundlage für gezielte Veränderungen, die auf die tatsächliche Kultur und die gelebten Erfahrungen der Organisationsmitglieder abgestimmt sind.

Ein weiterer wesentlicher Vorteil der narrativen Organisationsentwicklung ist die Erhöhung der Akzeptanz von Veränderungsprozessen. Da die Mitarbeiter aktiv in die Entwicklung der neuen Narrative einbezogen werden, fühlen sie sich eher als Teil des Wandels und können sich besser mit den Veränderungen identifizieren. Dies führt zu einer höheren Bereitschaft, neue Wege zu gehen und den Wandel positiv mitzugestalten. Der partizipative Charakter des Ansatzes schafft zudem Vertrauen und fördert die Zusammenarbeit, da die Mitarbeiter spüren, dass ihre Geschichten gehört und ernst genommen werden.

Zudem trägt die narrative Organisationsentwicklung dazu bei, kulturelle Barrieren zu überwinden. Oftmals sind es tief verankerte Überzeugungen und Denkweisen, die Veränderungen blockieren. Durch das gezielte Hinterfragen und Neugestalten dieser Geschichten können Organisationen ihre Kultur weiterentwickeln und offener für Innovationen und Veränderungen werden. Die narrative Methode ermöglicht es, nicht nur die sichtbaren Strukturen, sondern auch die unsichtbaren, kulturellen Dynamiken zu verändern, die das Verhalten und die Entscheidungen der Organisationsmitglieder prägen.

So bietet die narrative Organisationsentwicklung eine ganzheitliche Perspektive auf den Wandel in Organisationen. Sie ermöglicht es, Veränderungen nicht nur auf der Ebene von Prozessen und Strukturen, sondern auch auf der Ebene der Bedeutungen und Erzählungen zu gestalten. Dadurch wird der Wandel nicht nur effektiver, sondern auch nachhaltiger, da die neuen Geschichten tief in der Kultur und den Werten der Organisation verankert sind. Indem die narrative Organisationsentwicklung die Kraft der Geschichten nutzt, schafft sie eine positive Dynamik, die den Wandel unterstützt und die Organisation langfristig stärkt.