Überblick
Die Wissensspirale ist ein theoretisches Modell, das den Prozess der Wissensentstehung und -weitergabe in Organisationen beschreibt. Entwickelt wurde es von den japanischen Wissenschaftlern Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi in den 1990er Jahren. Ihr Modell wurde zunächst für japanische Unternehmen entwickelt, fand aber schnell weltweite Anerkennung und Anwendung. Die Wissensspirale ist besonders bekannt für ihre Unterscheidung zwischen zwei Wissensarten: explizitem und implizitem Wissen. Explizites Wissen ist formalisiert, dokumentiert und leicht kommunizierbar, während implizites Wissen (auch stillschweigendes Wissen genannt) auf persönlichen Erfahrungen und Intuition basiert und schwerer zu artikulieren ist.
Die Wissensspirale beschreibt, wie implizites und explizites Wissen sich wechselseitig beeinflussen und durch einen kontinuierlichen Zyklus in einer Organisation entstehen und verbreitet werden. Dieser Prozess trägt entscheidend dazu bei, wie Organisationen neue Ideen entwickeln, innovative Lösungen finden und bestehende Prozesse verbessern können.
Wissen wird dabei als dynamische Ressource betrachtet, die sich ständig weiterentwickelt und nicht statisch bleibt. Unternehmen, die den Wissensaustausch und die Wissensentstehung aktiv fördern, können so langfristig ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern und auf einem hohen Innovationsniveau agieren.
Konzept
Das Konzept der Wissensspirale basiert auf der Idee, dass Wissen nicht isoliert entsteht, sondern durch die Interaktion zwischen Individuen und Gruppen in einem Unternehmen geschaffen und weiterentwickelt wird. Der zentrale Mechanismus der Wissensspirale besteht aus vier Phasen: Sozialisierung, Externalisierung, Kombination und Internalisierung. Diese Phasen bilden den SECI-Zyklus, der die verschiedenen Arten der Wissensumwandlung beschreibt und erklärt, wie Wissen innerhalb einer Organisation generiert und verbreitet wird.
Die erste Phase der Wissensspirale ist die Sozialisierung. In dieser Phase wird implizites Wissen von einer Person auf eine andere übertragen, ohne dass dieses formalisiert oder in Worte gefasst wird. Dieser Wissenstransfer geschieht hauptsächlich durch gemeinsame Erfahrungen, Beobachtungen und Nachahmung. Zum Beispiel erlernen Mitarbeiter oft implizites Wissen durch die direkte Zusammenarbeit mit erfahrenen Kollegen, indem sie deren Verhaltensweisen und Vorgehensweisen übernehmen. In der Sozialisierung steht der persönliche Austausch im Vordergrund, wodurch insbesondere handlungsorientiertes, praktisches Wissen weitergegeben wird.
Ein typisches Beispiel für die Sozialisierung wäre ein neuer Mitarbeiter, der durch Beobachtung und Nachahmung die Arbeitstechniken eines erfahrenen Kollegen erlernt, ohne dass diese Techniken formal dokumentiert oder explizit erklärt werden. In diesem Fall findet der Wissenstransfer fast unbewusst statt und basiert stark auf der Nähe und dem direkten Austausch zwischen den Beteiligten.
In der nächsten Phase, der Externalisierung, wird implizites Wissen in explizites Wissen umgewandelt. Hierbei geht es darum, stillschweigendes Wissen zu formalisieren, es in Worte zu fassen und in einer Weise zu dokumentieren, dass es für andere zugänglich und verständlich wird. Dieser Prozess ist entscheidend, um Wissen für die gesamte Organisation nutzbar zu machen. Typischerweise erfolgt die Externalisierung durch das Schreiben von Berichten, Handbüchern oder durch das Halten von Präsentationen, in denen Erfahrungswissen in eine strukturierte und kommunizierbare Form gebracht wird.
Ein Beispiel für Externalisierung wäre ein erfahrener Mitarbeiter, der seine Arbeitsprozesse in einem Leitfaden dokumentiert oder in Schulungen weitergibt. Hier wird das implizite Wissen, das auf individuellen Erfahrungen basiert, in eine Form überführt, die auch für andere Mitarbeiter zugänglich ist. Dieser Prozess ist wichtig, um sicherzustellen, dass wertvolles Wissen nicht nur bei Einzelpersonen verbleibt, sondern für die gesamte Organisation nutzbar wird.
Die dritte Phase, die Kombination, betrifft die Verarbeitung und Integration von explizitem Wissen. In dieser Phase wird bereits formalisiertes Wissen miteinander verknüpft und neu organisiert, um daraus neues Wissen zu generieren. Dies geschieht durch die Sammlung, Strukturierung und Analyse von Informationen, die bereits in der Organisation vorhanden sind. Die Kombination kann beispielsweise in Form von Meetings oder durch den Austausch von Dokumenten und Datenbanken erfolgen. In dieser Phase geht es darum, bestehendes Wissen miteinander zu verknüpfen und daraus neue Einsichten und Erkenntnisse abzuleiten.
Ein praktisches Beispiel für die Kombination wäre ein Projektteam, das verschiedene Forschungsberichte und Marktanalysen zusammenführt, um eine neue Produktstrategie zu entwickeln. Hier wird explizites Wissen aus verschiedenen Quellen kombiniert, um es für neue Entscheidungsprozesse nutzbar zu machen. Durch die Zusammenführung von Wissen aus unterschiedlichen Bereichen können innovative Lösungen und neue Ideen entstehen.
In der vierten Phase, der Internalisierung, wird explizites Wissen wieder in implizites Wissen umgewandelt. Dieser Prozess findet statt, wenn Mitarbeitende das formal vermittelte Wissen in ihre eigenen Erfahrungen und Handlungen integrieren. Dies geschieht durch das praktische Anwenden von Wissen im Arbeitsalltag. Durch diesen Prozess wird das explizite Wissen verinnerlicht und zu einem Teil des impliziten Wissens der Einzelpersonen, das sie dann wiederum in der Sozialisierungsphase an andere weitergeben können.
Ein Beispiel für Internalisierung ist ein Mitarbeiter, der eine Schulung zu einer neuen Software besucht hat und dieses Wissen nun in seiner täglichen Arbeit anwendet. Durch die regelmäßige Anwendung wird das ursprünglich explizit vermittelte Wissen Teil des persönlichen Erfahrungswissens, das wiederum durch Sozialisierung an andere Kollegen weitergegeben werden kann.
Der Zyklus der Wissensspirale ist somit ein kontinuierlicher Prozess, in dem Wissen in einer Organisation ständig entsteht, weitergegeben und transformiert wird. Die Dynamik dieses Prozesses ist entscheidend für den Erfolg einer Organisation, da sie es ermöglicht, Wissen nicht nur zu speichern, sondern kontinuierlich weiterzuentwickeln. Jede Phase des Zyklus trägt dazu bei, dass Wissen sowohl innerhalb von Individuen als auch innerhalb der Organisation als Ganzes wächst.
Mehrwert
Durch die ständige Umwandlung und Weiterentwicklung von Wissen werden neue Ideen und Lösungsansätze gefördert. Da implizites Wissen, das oft auf individuellen Erfahrungen basiert, durch den SECI-Zyklus zugänglich gemacht und in der gesamten Organisation verbreitet wird, entsteht eine Kultur des kontinuierlichen Lernens und der Verbesserung. Dies schafft die Grundlage für Innovation, da es den Mitarbeitenden ermöglicht, kreativer zu denken und bestehendes Wissen zu nutzen, um neue Lösungen zu entwickeln.
Ein weiterer wesentlicher Vorteil der Wissensspirale ist die Verbesserung der Zusammenarbeit innerhalb der Organisation. Durch die gezielte Förderung des Wissensaustauschs und die Schaffung von Strukturen, in denen Wissen einfach weitergegeben werden kann, entstehen engere Verbindungen zwischen den Mitarbeitenden. Der SECI-Zyklus fördert den Austausch zwischen Teams und Abteilungen, wodurch Silos aufgebrochen und die bereichsübergreifende Zusammenarbeit gestärkt wird. Die Sozialisierung beispielsweise ermutigt die Mitarbeitenden, voneinander zu lernen und das Wissen durch persönliche Interaktion weiterzugeben, was zu einer besseren Zusammenarbeit und einem höheren Grad an Vertrauen führt.
Darüber hinaus trägt die Wissensspirale zur Sicherung und Verbreitung von Wissen in der Organisation bei. Besonders implizites Wissen, das oft bei langjährigen Mitarbeitern vorhanden ist, wird durch den Prozess der Externalisierung für das gesamte Unternehmen zugänglich gemacht. Dies stellt sicher, dass wertvolles Wissen nicht verloren geht, wenn erfahrene Mitarbeiter das Unternehmen verlassen oder in den Ruhestand gehen. Unternehmen, die die Wissensspirale aktiv fördern, können so eine langfristige Wissensbasis aufbauen, die es ihnen ermöglicht, auf Veränderungen und Herausforderungen besser vorbereitet zu reagieren.
Allerdings ist die Implementierung der Wissensspirale in einer Organisation nicht ohne Herausforderungen. Der Prozess erfordert eine Kultur des offenen Austauschs, die in vielen Unternehmen erst entwickelt werden muss. Mitarbeitende müssen bereit sein, ihr Wissen zu teilen, und es muss eine Umgebung geschaffen werden, in der der Wissensaustausch aktiv gefördert wird. Ohne die entsprechende Unterstützung durch Führungskräfte und geeignete Strukturen kann die Wissensspirale ins Stocken geraten.