Eine Doktorarbeit zu Lean Management mit klarem Bezug zur Unternehmenspraxis? Das geht, wie Tim Komkowski und seine Mitstreiter vormachen. Trotz des sperrigen Titels „Integrating Lean Management with Industry 4.0: an explorative Dynamic Capabilities theory perspective“ ging es in der Arbeit von Anfang an darum, die Erfahrungen aus der Management-Praxis aufzunehmen. Die wertvollen Erkenntnisse lassen sich als Umsetzungsempfehlungen lesen.

Und auch Tim selbst bringt als Head of Industrial Engineering, Digitalisation & Transformation bei thyssenkrupp Marine Systems einiges an praktischer Erfahrung aus dem Management von Veränderungen mit.

Wir hatten die Chance, mit ihm über die verschiedenen Aspekte seines ersten Artikels im Zusammenhang mit seiner Thesis an der Heriot-Watt University zu sprechen und ihn nach seiner persönlichen Einschätzung zum Stand von Lean Management und Industrie 4.0 in deutschen Unternehmen zu fragen.

 

Herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen Verteidigung Ihrer Doktorarbeit! Sie können zu Recht stolz auf diese Leistung sein – auch weil Sie mit den Einblicken, die Sie in die Umsetzung von Lean in Kombination mit Industrie 4.0 in Unternehmen geben, wichtige Impulse für die gesamte produzierende Industrie setzen.

Tim Komkowski: Danke schön für die Lorbeeren! Ich freue mich, dass die praktische Management-Perspektive unseres Papers Aufmerksamkeit findet. Denn genau diese Seite war für uns interessant:

Welche Aspekte von Lean Management in der Kombination mit dem Industrie-4.0-Ansatz gelingen in der unternehmerischen Praxis und wo gibt es Bedarf nachzubessern?

Dazu haben wir zahlreiche Tiefeninterviews mit Branchenexperten aus der produzierenden Industrie geführt. Diese Erkenntnisse haben wir dann im Rahmen einer Umfrage mit über 250 weiteren Branchenexperten gespiegelt, um so sagen zu können, welche Punkte eher individuell waren und welche Punkte auf breite Zustimmung stoßen.

 

Was hat sich in den Interviews herauskristallisiert? Mit welchen Herausforderungen sind Unternehmen bei der Implementierung von Lean Management konfrontiert und warum ist es zunehmend notwendig, den Ansatz mit Industrie 4.0 zu verknüpfen?

Im Laufe der Jahre hat sich Lean Management zu einem umfassenden Fertigungsparadigma entwickelt – aber viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, es vollständig umzusetzen. Leider wird Lean auch heute viel zu oft noch als Methodenkasten verstanden, was dazu führt, dass der wirkliche Nutzen einer ganzheitlichen Einführung ausbleibt. Hinzu kommen auch die zunehmende Komplexität und der härtere Wettbewerb in einer ausdifferenzierten Geschäftswelt. Rahmenbedingungen, die es unerlässlich machen, Lean Management mit Industrie 4.0 zu verbinden. So können Schwächen von Lean oder der Industrie-4.0-Ansätze auch in gegenseitiger Unterstützung überwunden werden.

Es kommt allerdings auf die richtige Kombination der beiden Themenkomplexe an – und nicht nur inhaltlich, sondern auch in der richtigen Reihenfolge.

Dabei gilt es selbstverständlich weiterhin zu vermeiden, Verschwendungen einfach zu digitalisieren, statt sie über saubere Prozesse sinnvoll und nachhaltig aufzulösen.

Das ist übrigens ein schönes Beispiel für die gegenseitigen Synergien zwischen Lean und Digitalisierung, somit hilft Lean bei einer wertsteigernden Ausrichtung der Digitalisierung und vermeidet auch hier Verschwendung in den ohnehin raren IT-Kapazitäten.

 

Ist das vielleicht auch ein Grund, weshalb sich viele der Manager, die sich im deutschen Mittelstand mit Lean beschäftigen, mit Big Dataeher schwerzutun scheinen?

Industrie 4.0 mit dem Schlagwort Big Data ist für Lean Management nicht etwa konkurrierend zu betrachten, sondern bietet eine ungeheure Chance: Die höhere Datenqualität und die viel stärkere Transparenz der Zahlen werfen ein Schlaglicht darauf, wie die Wirkung der Lean-Prinzipien ist. Gerade in Deutschland, wo Zahlen, Daten und Fakten das A und O sind, bekommt die Wirkweise von Lean dadurch ein stärkeres Gewicht.

Die Effektivität von Lean lässt sich sehr plakativ darstellen: Wie viele Downtimes konnten reduziert werden, wie wurde die OEE (Overall Equipment Effectiveness) gesteigert und so weiter. Das überzeugt die Entscheider.

 

Ein Gedanke, der sicherlich vielen Lean- und Operational-Excellence-Managern gefallen dürfte. Haben Sie für diese Zielgruppe weitere Empfehlungen für die Anwendung des Industrie-4.0-Ansatzes in der Praxis?

Beispielsweise lässt sich durch die visuelle Erkennung, gestützt durch digitale Anwendungen und auch KI, in der Qualitätssicherung eine deutlich bessere Fehlererkennung erzielen.

Profitieren kann aber auch die Planung, wenn sie datengestützt der Frage nachgeht, welche Teile in der Zukunft gebraucht werden. Oder stellen Sie sich mal die Vorteile von KI-basiertem Heijunka vor! Die Überprüfung der Prognosewerte und Wertströme wird dadurch extrem vereinfacht und zeigt ganz klar auf, in welcher Kombination der Ressourcen die besten Ergebnisse zu erwarten sind.

Daher will ich besonders denjenigen in KMU empfehlen, die IT dicht an die Produktion heranzuholen, um die Vorteile in der Praxis nutzen zu können.

Da mag es besonders in traditionellen Betrieben eine gewisse gewachsene Distanz geben – aber die gilt es abzubauen. Denn eines ist viel zu wenig bewusst: KMU haben es einfacher, ihre IT-Architektur umzustellen und die Vorteile von Industrie 4.0 nutzbar zu machen, da sie viel wendiger sind als große Konzerne mit starren IT-Strukturen.

 

In Ihrer Forschungsarbeit nehmen Sie Bezug auf die Theorie der dynamischen Fähigkeiten. Was hat es damit auf sich und welche Erkenntnisse für die Praxis haben Sie in Ihrer Arbeit gewonnen?

In der Vergangenheit wurde viel über das „Warum“ und „Was“ in Bezug auf die Integration von Lean Management und Industrie 4.0 geforscht. Das „Wie“ blieb lange ein blinder Fleck. Dabei ist der Aspekt entscheidend für die praktische Umsetzung!

In unserer Studie haben wir die Theorie der dynamischen Fähigkeiten (Dynamic Capabilities) für die Beantwortung dieser Wie-Fragen angewendet. Die Theorie betont die Fähigkeit eines Unternehmens zur Anpassung an Marktveränderungen und lieferte wertvolle Perspektiven für unsere Untersuchung.

 

Wie trägt die Theorie der dynamischen Fähigkeiten zum Verständnis der Integration von Lean Management und Industrie 4.0 bei?

Die Theorie konzentriert sich darauf, wie Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit an sich ändernde Marktchancen und Hindernisse anpassen können, was in einer dynamischen Geschäftsumgebung entscheidend ist. Für unseren Kontext hebt sie die Bedeutung schneller Reaktionen auf Kundenanforderungen, technologische Fortschritte und Markttrends hervor: Sie betont den Ablauf, wie sich ein Unternehmen effektiv verändern kann, und berücksichtigt gleichzeitig die Entwicklung notwendiger Fähigkeiten und Ressourcen.

Es wird deutlich, dass die Dynamik der Geschäftswelt ein kontinuierliches Anpassen und Transformieren erfordert, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Unternehmen sollten nicht nur bestehende Lean-Praktiken bewahren, sondern auch neue Technologien nutzen und ihre Fähigkeiten kontinuierlich erweitern.

Viele Unternehmen können davon profitieren, wenn sie bestehende Fähigkeiten, die durch Lean Management geprägt sind, nutzen und sich mit Hilfe von Industrie-4.0-Technologien neue Möglichkeiten erschließen.

 

Ihre Studie umfasst die erwähnten Tiefeninterviews mit Branchenexperten. Können Sie einige Schlüsselergebnisse oder Einblicke teilen, wie Unternehmen die Integration von Lean Management und Industrie 4.0 umsetzen können?

Durch eine thematische Analyse von 16 Tiefeninterviews haben wir zwei Schlüsselfragen behandelt: wie Unternehmen die Integration durchführen können und welche Fähigkeiten, Ressourcen und Prozesse dafür notwendig sind.

Basierend auf den Mustern der Antworten unserer Interviewpartner ergaben sich verschiedene Hauptthemen, die als Phasen einer Integration dienen können:

  • Momentum generieren
  • Handlungsoptionen entwickeln
  • Handlungsoptionen auswählen
  • Handlungsoptionen realisieren
  • Nachhaltig verankern

Es stellte sich heraus, dass besonders zwei Bereiche, die in der Forschung bisher weniger beleuchtet wurden, eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Transformation unter Berücksichtigung von Lean Management und Industrie 4.0 spielen: Momentum generieren und Nachhaltig verankern. Sie zielen darauf ab, Impulse am Anfang eines Integrationsprozesses zu setzen und eine breite Masse zu motivieren sowie die Nachhaltigkeit einer Integration zu sichern.

 

Lassen Sie uns kurz auf die Phase des „Momentum generierens“ eingehen – wie gelingt es Unternehmen, diesen Auftakt so zu nutzen, dass Transformationen erfolgreicher ablaufen können?

Die Management-Teams spielen eine entscheidende Rolle bei der Auslösung des Initiierens. Unsere Interviewpartner betonten durchgängig die herausragende Rolle der Führung. Denn es kommt darauf an, dass das Management erstens allen im Unternehmen sehr deutlich macht, dass die Veränderung wirklich gewünscht ist, und zweitens mit gutem Beispiel vorangeht und selbst etwas ändert – einschließlich der eigenen Handlungen und Verhaltensweisen. Dann gelingt es in der ersten Phase des Transformationsprozesses, den Erfolg von Veränderungen zu fördern. Darüber hinaus scheinen zumindest in Deutschland Pilotbereiche und die Etablierung interner Benchmarks dafür zu sorgen, dass andere Bereiche sich hieran orientieren und starkes Engagement entfalten.

 

Weshalb ist die Phase des „Nachhaltig verankerns“ ebenfalls von besonderer Bedeutung?

Unsere Untersuchung zeigt die enorme Relevanz der nachhaltigen organisatorischen Entwicklung, die in Lean Management oft als Standardisierung bezeichnet wird. Bei der Integration von Lean Management und Industrie 4.0 erhöhen Unternehmen naturgemäß die technologische Komplexität, was das Verständnis und potentielle Arten der Standardisierung stark beeinflusst.

Dabei sollte die Standardisierung so gestaltet sein, dass gewissermaßen Leitplanken gesetzt werden, die nicht umgangen werden können.

Dies sollte jedoch nicht in eine Art Bevormundung des Personals ausarten, sondern vielmehr die Anpassung von Prozessen unterstützen und – sofern möglich – weitgehend durch die Teams selbst entwickelt werden oder – alternativ – weiterentwickelt werden.

Was diese Phase bei einer Industrie-4.0-Integration so besonders macht, ist die Geschwindigkeit der Standardisierung: Sie lässt sich stark erhöhen, beispielsweise durch intelligente Front-End-Dashboards, in denen Variablen von Produktionsprozessen angepasst oder über Schichten hinweg geteilt werden können.

 

Zu guter Letzt eine Frage, die viele unserer Projektpartner besonders interessieren dürfte: Wie können Unternehmen sicherstellen, dass die Transformation erfolgreich durchgeführt wird?

In unseren Interviews betonten die Teilnehmer die Bedeutung eines hybriden Veränderungsansatzes, der sowohl bedarfs- als auch lösungsorientierte Elemente umfasst und somit eine Top-down-Strategie mit bottom-up-entwickelten Use Cases verbindet. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Steuerung durch monatliche eher klassische Steuerungsausschüsse zu langsam sein kann, und stattdessen vorgeschlagen, agile Projektmanagement-Richtlinien zu implementieren.

Darüber hinaus wurde die Notwendigkeit betont, dezentrale Verantwortlichkeiten zu schaffen, bei denen Prozessverantwortliche die Integration in ihren Bereichen ganzheitlich übernehmen. Transparente Systeme und Monitoring, einschließlich Leistungsindikatoren, sind ebenfalls entscheidend, um den Fortschritt und die realisierten Effekte zu überwachen.

 

Wir bedanken uns für diese aufschlussreichen Einblicke in Ihre Untersuchungsergebnisse und sind gespannt, welche Erkenntnisse Sie in Zukunft mit uns teilen!

 

Für interessierte Leser bietet folgender Artikel* tiefergehende Einblicke: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09537287.2023.2294297

*Wir weisen darauf hin, dass es sich um einen externen Link handelt.