Eine der ersten Fragen von an Weiterbildungsseminaren Interessierten geht stets in Richtung Zertifikate. Ob diese vergeben werden scheint oft mehr zu zählen als die eigentlichen Seminarinhalte selbst oder die Frage nach dem persönlichen Nutzen (neben der Zertifizierung) für den Kunden. Dieses Phänomen äußerst sich nach subjektiver Wahrnehmung besonders im deutschsprachigen Raum. Für alles bedarf es einer Bestätigung, eines Dokuments, eines Zertifikats, so scheint es. Doch woher kommt diese Fixierung auf das unterschriebene Blatt Papier und macht sie überhaupt Sinn?

Möglicherweise gibt es hierzu vielfache Erklärungsmodelle aus der Philosophie, Soziologie, den Geschichts- oder Politikwissenschaften. Als Unternehmensberatung soll an dieser Stelle die Frage aus rein ökonomischer Perspektive betrachtet werden. Machen Zertifikate Sinn? Mit seinem brillianten Aufsatz „The market for lemons“ von 1970 hat George A. Akerlof, der hierfür später verdient mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt wurde, die Grundlage für eine neue Richtung in der volkswirtschaftlichen Theorie gelegt: der Institutionenökonomie, welche neben dem Keynesianismus und der Neoklassik auch heute noch eine der drei Richtungen der volkswirtschaftlichen Theorie darstellt. Warum geht es? Akerlof zeigt den Mechanismus auf, der zum Zusammenbruch eines Marktes führen kann. Ein Novum, ging man doch bis dato vor allem von einer effiziente Marktsteuerung auf Basis von Angebot und Nachfrage aus.

Angenommen Sie möchten Ihr Auto verkaufen. Als bisheriger Besitzer kennen Sie es genau. Ist der Reparaturbedarf hoch, verbraucht es vielleicht mehr als üblich, ist es ein Unfallwagen? Der potentielle Käufer verfügt über dieses Wissen nicht. Er kann zwar des Auto untersuchen, doch alle Informationen hat er nicht. Man spricht deshalb an dieser Stelle von einer Informationsasymetrie. Angenommen Sie wissen nun, dass Sie ein hochwertiges und besseres als marktübliches Auto besitzen. Der potentielle Käufer kann dies aber nicht ohne Weiteres feststellen, weshalb er den durchschnittlichen und somit niedrigeren Marktpreis als Bewertung ansetzt. Der Vertrag findet nicht statt, da Sie mehr verlangen, als der Käufer bereit ist zu zahlen, und es werden somit keine hochwertigen Autos mehr gehandelt. Folgt man diesem theoretischen Modell weiter, so wird am Ende nur die niedrigste Qualität zum niedrigsten Preis angeboten. Der Markt bricht zusammen. Man spricht von Marktversagen.

Doch dagegen lässt sich etwas unternehmen. Zum einen kann der potentielle Käufer eine genaue Untersuchung des Autos durchführen. Dies ist aber mit Kosten verbunden. Den Transaktionskosten. Doch es gibt eine weitere Möglichkeit: Signaling. Der Verkäufer lässt z.B. sein Auto von einem sachverständigen Dritten prüfen, welcher ein Gutachten über das Auto anfertigt und ein Zertifikat über die Qualität ausstellt. Daher haben aus volkswirtschaftlicher Sicht Zertifikate eine ganz wesentliche Funktion. Sie lösen zumindest teilweise Informationsasymetrien auf, die überall dort vorkommen, wo der Kunde die Qualität der Leistung oder des Produkts nicht vollkommen überprüfen kann. Dies ist das Principal-Agent-Problem, welches sich an vielen Stellen unseres täglichen Lebens findet. Jeder Marktteilnehmer hat demnach das Ziel der eigenen Nutzenmaximierung, so sehr man sich auch eine altruistische Gesellschaft wünschen mag. Besonders Dienstleistungsangebote sind hiervon betroffen. Wie kann ich gute, neue Mitarbeiter aus der Masse an Bewerbungen herausfiltern? Wie erkenne ich den besten Arzt, Rechtsanwalt, Steuerberater, Bankberater oder eben halt Managementtrainer? Hier helfen Zertifikate. Sie sind ein möglicher Weg und wir finden Sie heute in vielfacher Ausführung: die Haupt- und Abgasuntersuchung für das Auto, DIN-Normen für die Industrie, das Abitur- oder Studiumszeugnis, die Anwalts-, Arzt- oder Steuerberaterzulassung oder Zertifikate über durchgeführte Weiterbildungsmaßnahmen.

Soweit so gut. Zertifikate machen aus volkswirtschaftlicher Sichtweise also durchaus Sinn. Doch wie sieht es im betriebswirtschaftlichen Alltag aus? Hier sollen zwei Beispiele gegeben werden.

Nach unserem aktuellen Kenntnisstand beträgt die Schwelle zum Bestehen der Steuerberaterprüfung in Hamburg 40 Prozent. Dies bedeutet, dass ein Kandidat lediglich 40 Prozent aller möglichen Punkte erreichen muss, um sich anschließend mit dem Titel „Steuerberater“ schmücken zu dürfen. An dieser Stelle sei ausdrücklich zur Ehre aller Steuerberater darauf hingewiesen, dass nur die wenigstens Kandidaten die 40 Prozent Hürde überhaupt schaffen, da die Materie so ungeheuerlich komplex ist. Nichtsdestotrotz bedeutet dies aber auch, dass Sie im besten Glauben an die Kompetenz Ihres Steuerberaters davon ausgehen, dass er all Ihre Anliegen optimal behandelt. Aber wie soll das gehen, wenn jemand den Titel verliehen bekommen hat, der „nur“ vier von zehn Fragen überhaupt beantworten konnte? Ja, es befinden sich sicherlich auch viele nicht ganz alltägliche Spezialfragen in der Prüfung wieder. Dennoch bleibt das Grundproblem bestehen. Sie wissen nicht, ob Sie nun einen „guten“ Steuerberater oder einen „gerade so geschafft“ Kandidaten bekommen haben. Beide tragen exakt denselben Titel.

Das zweite Beispiel ist ein immer wieder auftretendes Phänomen während verschiedener Beratungsprojekte für die Industrie. Einmal im Jahr sind auf einmal alle leitenden Ingenieure verschwunden und nicht mehr erreichbar. Macht man sich auf die Suche nach seinen Ansprechpartnern, so findet man diese meistens im intensiven Aktenstudium vertieft. Es steht mal wieder eine Auditierung der Prozesse nach diversen Standards, Normen und Zertifikaten an. Zwei bis drei Wochen vor dem anstehenden Prüfungstermin beginnt man häufig mit der Optimierung der Aktenordner. Seitenweise Material wird aktualisiert, ergänzt, überprüft und vorbereitet. Innerhalb einiger Tage werden dann die Unterlagen von den Prüfern durchgeschaut und manchmal sogar Angaben stichpunktartig vor Ort kontrolliert. Anschließend geht alles wieder seinen Gang, ohne dass in vielen von uns beobachteten Fällen auch nur eine Zeile in den Akten irgendetwas mit den realen Prozessen vor Ort zu tun hatte. Dies mag Zufall oder eine Ausnahme gewesen sein, aber in diesen Fällen hätte die wertvolle Arbeitszeit der Ingenieure vielleicht wertschöpfender eingesetzt werden können?

Fazit: Zertifizierungen, Audits, Standards, Normen und Prüfungen haben durchaus ihre Berechtigung. Es kommt allerdings ganz entscheidend auf die Kriterien, Prüfungsmodalitäten und Unabhängigkeit an. Und wer überprüft diese Kriterien? Wer zertifiziert die Zertifizierer? So stellen wir auch weiterhin für unsere Seminarteilnehmer Zertifikate der TrainingsManufaktur aus, aber wir plädieren vor allem für einen größeren Fokus auf die Inhalte. In erster Linie sollte es doch darum gehen, sich weiter zu bilden, um Erfolg und Vorteile am Arbeitsmarkt oder als Organisation im täglichen Wettbewerb zu haben. Daher kann die Zertifizierung selbst immer nur ein Element für nachhaltigen Erfolg sein. Es ersetzt aber nicht die auch wirklich stattfindende Weiterentwicklung als Person oder Organisation. Vor allem sollte sich kein Marktteilnehmer blind auf Zeugnisse, Zertifikate und Nachweise verlassen. Eigenständiges Mitdenken ist hier gefragt! Auch wenn dies an der ein oder anderen Stelle zu höheren Suchkosten führt, wird sich der Einsatz doch langfristig lohnen.